Die Internationalisierung der beruflichen Pflege in Deutschland

die internationalisierung der beruflichen pflege in deutschlandLukas Slotala, Nadja Noll, Matthias Klemm, Heinrich Bollinger (Hrsg.)

Frankfurt am Main, Mabuse-Verlag, 2022, 223 Seiten, 37,00 €, ISBN 978-3-86321-554-5

 

Kein Zweifel: Deutschland hat einen Arbeitsfachkräftemangel, der auch das Gesundheitswesen umfasst. Insbesondere der sich verschärfende Pflegepersonalmangel hinterlässt Sorgenfalten auf vielen Gesichtern in der Politik, in gesundheitsbezogenen Versorgungseinrichtungen, überhaupt in der sich demografisch verändernden Gesellschaft. Eine Lösung des Problems scheint die Anwerbung von bereits ausgebildetem Pflegefachpersonal aus dem Ausland zu sein. Soweit – so gut? Besonderheiten (mitunter historisch gewachsen) etwa im Rahmen der pflegerischen Ausbildungen – aber auch verstetigte Abläufe und Organisationen, beruflich zugewiesene Tätigkeiten und weiblich-normativ definierte Zuschreibungen erweisen sich als Hürden und werden denn auch bereits in der Einleitung von den Herausgeber*innen kritisch skizziert. Zudem wird darauf verwiesen, dass in Deutschland selber die Motivation als eher gering eingeschätzt werden kann, eine institutionelle Internationalisierung – im Hinblick auf die berufliche versus hochschulische Ausbildung – voranzubringen. Eher sind es die Richtlinien und Gesetze der Europäischen Union (EU), die hierzulande die Angleichung der Ausbildungsstandards anmahnen und in Folge dessen zu harmonisierten Kompetenzen und Aufgaben auffordern.

Gleichwohl ist eine zunehmende personenbezogene Internationalisierung in der formellen beruflichen Pflege zu konstatieren, wie sich anhand statistischer Personaldaten aufzeigen lässt. Sie wirft ebenfalls ausbildungs- und tätigkeitsbezogene sowie ethische und vor allem diversitätsinhärente Fragen auf. Auch diese werden im Sammelband explizit aufgegriffen.

Zum Aufbau des Buches: Zunächst (1. Teil) werden die Entwicklungspfade der Internationalisierung der beruflichen Pflege in den Blick genommen. Susanne Kreutzer untersucht retrospektiv die Arbeitsmigration von Pflegefachkräften in den 60er und 70er aus Asien (Asiatische Pflegekräfte in der Bundesrepublik. Historische Erfahrungen bei den Anwerbungen aus Südkorea, Indien und den Philippinen in den 1960er / 70er Jahren). Geschätzt 16.000 Arbeitsmigrant*innen sind damals angeworben und in allen Bereichen des Gesundheitswesens eingesetzt worden. Auch zu dieser Zeit war der Grund für die Anwerbungen im außereuropäischen Raum ein ausgewiesener Pflegenotstand in der damaligen Bundesrepublik Deutschland. Wie die Autorin aufzeigt, sind Bemühungen, überdies Pflegepersonal im Zuge der Anwerbeabkommen mit südeuropäischen Ländern zu rekrutieren, nicht gelungen. Kreutzer zitiert dazu die Präsidentin der spanischen Schwesternorganisation, die auf die gänzlich unterschiedlichen Pflegearbeiten und deren Bewertung verweist. So würden die „deutschen Schwestern im Vergleich zu den spanischen Krankenpflegerinnen zu viel praktische Arbeit“ leisten und „dass keine Spanierin als Dienstmädchen in deutschen Krankenhäusern Haus- und Küchenarbeit übernehmen würde.“ (S. 31)

In den 80er Jahren kam es erstmals, zunächst allerdings nur in den Ländern der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), zu Anerkennungen der Berufszulassungen. 1985 trat in der Bundesrepublik Deutschland ein neues Krankenpflegegesetz in Kraft, das die Anerkennung immerhin erwähnte. Lukas Slotala analysiert diese und die sich anschließenden Entwicklungen und Herausforderungen in seinem Artikel Fortschritte, Hindernisse und Reformbedarfe: Die internationale Öffnung der Pflegeberufszulassung in Deutschland. 

Der dritte Artikel ist dem Thema Die Akademisierung der Pflege in Deutschland im Spannungsfeld von Berufsrecht und Hochschulrecht: Ein Rückblick auf die Jahre 1990 – 2020 von Annette Grewe und Klaus Stegmüller gewidmet. Beide Autor*innen zeigen dezidiert auf, dass die bisherigen und auch aktuellen Pflegeausbildungsmodelle weder bildungspolitisch, noch im Hinblick auf die hohen fachlichen Ansprüche oder im Sinne eines internationalen Transfers und damit verbundener Chancengleichheit funktionieren. Es waren und sind Hilfskonstrukte, die schlecht durchdacht und gemacht sind und von dem politischen Unwillen zeugen, Pflege zu akademisieren.

Teil 2 thematisiert die Internationalisierung durch Anwerbung und Integration. Hier finden sich vier Artikel, der erste – von Matthias Klemm – diskutiert Statuskonflikte im/ mit System. Der Autor zeigt kritisch auf, dass angeworbene Pflegefachkräfte, in der Regel im Herkunftsland hochschulisch ausgebildet, in eine widersprüchliche Situation und einen unangemessenen Status geraten. Sie sind als Fachpersonal anerkannt und dürfen deshalb einreisen. In Deutschland angekommen, geraten sie dann aber im Rahmen des Berufsanerkennungsverfahrens in einen mehrmonatigen Übergangsstatus. Obwohl der Arbeitsmarkt die Personen dringend benötigt, erleben sie erst einmal eine strukturelle und persönliche Abwärtsspirale.

Nadja Noll und Heinrich Bollinger befassen sich mit der (…) Integrationsarbeit der Pflegeteams – arbeitssoziologische Anmerkungen. Sie zeigen auf, dass – notwendige – Integrationsarbeit nicht als Teil der Erwerbsarbeit betrachtet wird, sondern vielmehr unsichtbar – en passant – passiert. Es werden daraus resultierende Folgen sowohl für die migrierten Mitarbeiter*innen aufgezeigt als auch für das Team bzw. das kollegiale Miteinander. Grundsätzlich stellt sich im Kontext der personalknappen Organisationen und arbeitsintensiven Anforderungen aber auch die Frage, ob die nicht wertgeschätzte Integrationsarbeit dazu dient, die akkordverdächtigen grundpflegerischen Arbeitsabläufe nicht zu hinterfragen und so ein defizitäres System aufrecht zu halten. 

Der nachfolgende Artikel von Juliane Dieterich rund um Schlüsselfragen an die Konzeption von Anpassungsqualifizierungen für internationale Pflegekräfte greift die Nach-Qualifizierung des angeworbenen Pflegepersonals unter zwei Fragen auf: „Worin liegt die Spezifik beruflicher Qualifizierung internationaler Pflegekräfte aus pflege- und berufspädagogischer Sicht“ und „Welche didaktischen Implikationen lassen sich aus dieser Spezifik für die Lehrgangs- und Prüfungsgestaltung ableiten?“ (S. 143). 

Ilka Sommer und Ilona Nussbaum Bitran fragen, ob Die Anerkennung und Anwerbung von Pflegefachkräften aus dem Ausland: ökonomisch notwendig oder ethisch fraglich? sind. Die beiden Migrationsforscher*innen haben dafür zunächst transnationale Personalvermittlungsagenturen in den Blick genommen und nach Gleichwertigkeit der beruflichen Anerkennung sowie nach dem kulturellen Kapital gefragt. Sie erweitern die Sichtweisen in ihrem Artikel u.a. mit persönlichen Migrationsgeschichten und -erfahrungen.

Der 3. Teil widmet sich in zwei Artikeln der Interkulturalisierung von Pflegeteams. Zunächst wird die Situation von geflüchteten Menschen in der Pflege fokussiert. David Johannes Berchems Artikel beleuchtet das Thema Flucht und Teilhabe. Kritische Perspektiven auf die Gelingensbedingungen und Konfliktlinien bei der Integration von Geflüchteten in den Pflegesektor. Nach der Arbeitsmigration steht nun die Fluchtmigration im Fokus. Vor allem mit der hohen Zahl von geflüchteten Menschen 2015 setzten auch Bestrebungen ein, diesen Personenkreis für eine Ausbildung und Arbeit im Pflegesektor zu motivieren und so für beide Seiten vorteilhaft zu gestalten: für die Menschen, die sich über Ausbildung und Berufstätigkeit (besser) integrieren können und für den Gesundheits- und Pflegebereich, der nun Nachwuchs bekommt. 

Abschließend beschreibt Maya Stagge Möglichkeiten, Chancen und Herausforderungen bei der Teamentwicklung in multikulturellen Pflegeteams. Sie analysiert Formen der Zusammenarbeit im Team und gibt Handlungsempfehlungen. 

Die Zusammenführung der Themen in diesem Sammelband ist als überaus gelungen zu bewerten, ebenso die Inhalte der einzelnen Artikel. Die Expert*innen, die hier geschrieben haben, verfügen über fundierte Kenntnisse bezüglich Pflege und Gesundheit, Migration und Anwerbung, Themen, die sie kontextuell und faktenreich zusammenführen und kritisch hinterfragen. 

Der Sammelband ist einem breiten Fachpersonal im Bildungs- und Praxisbereich und Interessierten unbedingt zu empfehlen. Es werden wichtige Einblicke gegeben und scheinbar selbstverständliche Abläufe bei der Internationalisierung – aber auch im hiesigen Pflegealltag und in der pflegerischen Ausbildung – genau hinterfragt. Praktikable Möglichkeiten der Veränderungen werden benannt – ein gesundheitspolitischer Wille für grundlegende Erneuerungen wäre allerdings die wichtigste Voraussetzung dafür.

Eine Rezension von Prof.in Dr.in Gudrun Piechotta-Henze