Hilde Schädle-Deininger, Christoph Müller (Hrsg.)
Hogrefe Verlag, Göttingen, 2023, 248 Seiten, 32,95 €, ISBN 978-3-456-86164-7
Als wichtiger Baustein in der Behandlung von psychischen Erkrankungen spielen Psychopharmaka heute eine – wenn nicht gar die – entscheidende Rolle. Nach mehr als zweihundert Jahren Psychotherapie sind seit Mitte des letzten Jahrhunderts Psychopharmaka aus der Therapie nicht mehr wegzudenken und in der modernen Medizin die am häufigsten verordneten Medikamente. Die positive Wirkung, die zumeist auch Basis für eine psychotherapeutische Behandlung im Alltag ist, wird begleitet von kritischen Debatten. Vor allem die Frage der Gesundheitsgefährdung durch Neben- und Wechselwirkungen sowie der Machtmissbrauch, der mit der Gabe von Psychopharmaka einhergeht, wird negativ beleuchtet.
Das „Praxisbuch Pflege und Psychopharmaka“ widmet sich umfassend diesem Thema. Es ist als Herausgeberwerk unter der Leitung von Hilde Schädle-Deininger und Christoph Müller im Hogrefe Verlag Göttingen in der 1. Auflage 2023 erschienen.
Diese Seiten wollen vor allem eins zeigen: Die psychiatrische Versorgung und damit auch die psychopharmakologische Behandlung kann nur trialogisch funktionieren mit Betroffenen, Angehörigen und psychiatrisch Tätigen. Dies zeigt sich vor allem auch in der Breite der Autorenschaft. Hilde Schädle-Deininger ist Dipl.-Pflegewirtin, Fachkrankenschwester für Psychiatrische Pflege und Dozentin für Pflegeberufe. Sie erhielt 2016 als erste Preisträgerin den „Psychiatrischen Pflegepreis“, ist Trägerin des Verdienstkreuzes 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland und gilt als Pionierin im Bereich der Sozialpsychiatrie und der psychiatrischen Pflege. Christoph Müller ist neben seiner Tätigkeit als Psychiatriepfleger Redakteur der Fachzeitschrift „Psychiatrische Pflege“ und Herausgeber des „Pflege-Cafés“ im Magazin „Pflege Professionell“. Vor- und Nachwort sind verfasst von Dr. Markus Watzmann, Professor der Studiengänge „Mental Health“ und „Advanced Practice Nursing“ an der Hochschule München. Als weitere Autoren finden neben professionell Tätigen auch Betroffene, Angehörige und andere am Psychiatrie-Komplex beteiligte Menschen Gehör.
Der Inhalt des Buches ist ausführlich und differenziert zusammengestellt und kann sowohl als Gesamtwerk genutzt, als auch in einzelnen Aspekten zur Lektüre herangezogen werden. Einerseits vermittelt es Wissen und Knowhow in verschiedensten Bereichen der Psychopharmakotherapie, andererseits beleuchtet es ethische Fragen, Haltung und Beziehungsgestaltung, multiprofessionelles Team und Behandlungskontext sowie Erfahrungen und Reflexion.
Zunächst beginnt das Buch mit allgemeinen Inhalten zur medikamentösen Behandlung mit Psychopharmaka, definiert und differenziert Psychopharmaka, thematisiert sowohl positive als auch negative Auswirkungen, hebt ethische Aspekte hervor und wirft einen Blick in andere Länder und deren Umgang sowie Behandlung mit Psychopharmaka.
Wie wichtig der trialogische Prozess ist, wird auf den folgenden Seiten deutlich. Es kommen Betroffene und Angehörige zu Wort, die auf unterschiedlichste Vor- und Nachteile eingehen. In einem weiteren Kapitel werden Kooperation und Krankheitseinsicht thematisiert und durchaus kritisch betrachtet, dazu die Möglichkeiten und positiven Effekte von multiprofessionellen Teams beleuchtet und die rechtlichen Aspekte der Abgabe von Psychopharmaka erläutert. Weiterhin wird die medikamentöse Therapie und deren Besonderheiten in unterschiedlichsten Lebensphasen diskutiert – von Kindern und Jugendlichen über Erwachsene bis hin zu älteren Menschen, ebenso wie die Behandlung in unterschiedlichen Settings (ambulant, teil-, stationär, komplementär). Abschließend wird noch ein Blick auf einzelne psychiatrie-charakteristische Kontexte wie Recovery, Resilienz und Empowerment geworfen. Es gibt eine Einführung ins Gezeitenmodell von Barker im Hinblick auf Reduktion und Absetzen von Medikamenten. Und zudem eine aus trialogischen Blickwinkeln zusammengefasste Darstellung von verschiedensten Nebenwirkungen.
Diese kurze Zusammenfassung des Praxisbuches zeigt deutlich die Breite der Themen. Es geht dabei um viel mehr als nur um Psychopharmaka, es geht um eine Haltung – es unterstreicht die Bedeutung von psychiatrisch tätigem Pflegepersonal im Behandlungsprozess. Aus Sicht des Rezensenten ist das Buch deshalb besonders wertvoll, da diese Themen zwar während des Studiums behandelt wurden, in der Praxis jedoch weniger. Dabei ist das Buch inhaltlich weit gefasst und es werden viele Aspekte im Zusammenhang mit Pflegepersonal und Psychopharmaka beleuchtet. Eine Vielzahl an Beispielen vervollständigt die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema.
Das vorgestellte Ziel der Publikation ist erreicht. Es zeichnet sich durch Übersichtlichkeit aus, ist nachvollziehbar und hat einen guten Plot. Das behandelte Thema ist mehr als aktuell. Psychiatrische Behandlung befindet sich im steten Wandel und muss dies auch. Vermittelt wird hier ein moderner trialogischer Ansatz, der sehr zeitgemäß ist. Allerdings ist der Titel ein wenig irreführend und wird dem Buch nicht gerecht, da das behandelte Thema sehr umfassend beleuchtet wird.
Als Adressaten sollen psychiatrisch Tätige angesprochen werden, um sich ihrer Rolle bewusst zu werden. In der Behandlung mit Psychopharmaka gibt es noch viele Unklarheiten, auch über Wirkspektren. Häufig gehen die Behandlungen mit einer Vielzahl von Nebenwirkungen einher, die den Benefit für die Betroffenen im Vergleich eher geringhalten. Gerade deshalb müssen sich alle am Pflegeprozess Beteiligten und im Besonderen Pflegekräfte mit einer hohen Sensibilität ihrer Rolle bewusst sein.
„Es geht nicht um schwarz-weiß, um gut und schlecht, um pro und contra. Aufgabe aller Beteiligten ist es, individuelle Lösungen zu erarbeiten, was in der jeweiligen Situation des Patienten hilfreich sein könnte und welcher Weg gemeinsam beschritten werden kann.“ (Hilde Schädle-Deininger; Interview mit Thomas Hax-Schoppenhorst im Magazin „Pflege Professionell“; Feb. 2023)
Eine Rezension von Ronny Hehr