Thomas Boggatz, Hermann Brandenburg, Manfred Schnabel
Kohlhammer, Stuttgart, 2022, 175 Seiten, 39,00 €, ISBN 978-3-17-039286-1
Demenz als Krankheitssyndrom kann aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden, die sich inhaltlich zwar widersprechen können, in der Praxis jedoch koexistieren. Zum einen aus der biomedizinischen Perspektive, in welcher eine Demenz auf biologische und biochemische Ursachen zurückgeführt werden kann und zum anderen aus einer normativen (psychosozialen) Perspektive. Mit dem Buch wird das Anliegen verfolgt, etablierte Sichtweisen sowohl zum Krankheitsbild als auch zum Umgang mit den Betroffenen in Frage zu stellen und dadurch auf den originären Beitrag der Pflegekräfte zu fokussieren.
Das Krankheitsbild „Demenz“ hat in den vergangenen Jahren zu einer kaum noch überschaubaren Anzahl an Publikationen geführt, aus denen sich jedoch bislang kein Konsens ableiten lässt. Im Kontext der zahlreichen Erklärungsversuche zur Ätiologie der Demenzformen, ihrer Symptome und den diversen Lösungsvorschlägen zum Umgang mit Menschen mit Demenz veranschaulichen die Autoren eine kritische Bestandsaufnahme der aktuellen Thesen und Praktiken. Anhand einer Ontologie der Demenz wird zunächst das Krankheitsbild im Kontext zwischen Gesundheit und Krankheit näher betrachtet und versucht, es zwischen den Perspektiven neu einzubetten. Anschließend werden unterschiedliche Konzepte und Settings zur Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz von den Autoren und durch Expertengespräche kritisch diskutiert.
Die Diagnose Demenz stellt – wie jede andere Diagnose auch – eine Abweichung von einem als „normal“ angenommenen Zustand dar. Dabei gelten vor allem die Beschreibung und Behandlung psychischer Erkrankungen wie die der Demenz als anfällig für den Einfluss festgelegter Normen, da ihnen häufig ein organischer Befund fehlt. Geleitet von der Prämisse, dass Gesundheit die Norm ist, und Krankheit eine Normverletzung darstellt, greifen die Autoren die Frage auf, welcher kognitive, psychische oder behaviorale Zustand als Norm definiert und welcher Maßstab zur Identifizierung einer Normverletzung genutzt werden kann. Neben der Betrachtung von Gedächtnistests, bildgebenden Verfahren und der Medikalisierung verweisen die Autoren darauf, dass Vermessung und Klassifizierung eines menschlichen Zustandes stets in einen kulturellen Kontext eingebettet sind, der mit naturwissenschaftlichen (biomedizinischen) Instrumenten allein nicht fassbar ist. Das Ziel der pflegerischen Behandlung liegt daher darin, das Wissen und die Praktiken dementieller Erkrankungen nicht (nur) auf ihre Evidenz oder Wirksamkeit zu betrachten, sondern die Funktionalität der Behandlung innerhalb der gegebenen Verhältnisse zu bewerten.
Aufgrund der diversen Kontextfaktoren und der großen Spannbreite an biologischen, sozialen, personenbezogenen oder biographischen Voraussetzungen, kann die Bewertung von Aspekten wie die Anfälligkeit, der Verlauf, der Schweregrad und die damit einhergehenden Konsequenzen sowie die persönliche Wertung einer Demenz höchst unterschiedlich ausfallen. Somit sind nicht die Funktionsverluste an sich ausschlaggebend für die Erkrankung, sondern deren Auswirkungen auf Lebensqualität und Wohlergehen.
Für eine genauere Betrachtung dieser Kontextfaktoren und ihre Auswirkungen auf die pflegerische Behandlung der Demenzformen fokussieren sich die Autoren auf die Validation nach Feil und nach Richard, auf das psychobiographische Modell nach Böhm, die Person-zentrierte Pflege nach Kitwood und das mäeutische Pflegemodell nach van der Kooij. Ferner werden die Settings für die Pflege von Menschen mit Demenz anhand der aktuellen Situation betrachtet, um die Fragen zu beantworten, wie und warum Settings funktionieren und ob sie einen Unterschied in der Behandlung machen.
Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass die aktuelle Dominanz der biomedizinischen Perspektive zu einer Übergewichtung medizinischer Zugänge und zu einer Marginalisierung anderer fachlicher Expertisen führt und somit einen konstruktiven interdisziplinären Zugang untergräbt. Person-zentrierte Konzepte und Validation lassen sich laut den Autoren als ein Gegenentwurf zur biomedizinischen Deutung der Demenz verstehen. Zur Professionalität des Pflegeberufes gehört jedoch sowohl eine biomedizinische als auch eine psychosoziale Kompetenz. Daher sollen die unterschiedlichen Konzepte von allen Akteuren unvoreingenommen und bezüglich ihres Potenzials in der Praxis geprüft und genutzt werden.
Mit dem Buch werden die bereits lang bestehenden Diskussionen zwischen den biomedizinischen und normativen Krankheitsbildern aufgegriffen und durch aktuelle Studien und Literatur untermauert. Neu dabei ist der Transfer auf demenzielle Krankheitsbilder und die bestehenden Konzepte zur pflegerischen Behandlung der Betroffenen. Auch wenn die Diagnostik und Behandlung von Menschen mit einer Demenz sowohl biomedizinische als auch die psychosoziale Aspekte beinhaltet, wird die Dominanz der biomedizinischen Perspektive sehr kritisch betrachtet. Dabei liegt der Fokus der Kritik jedoch nicht auf der biomedizinischen Perspektive an sich, sondern auf der daraus resultierenden Marginalisierung von Gesundheitsfachberufen, der mangelnden interdisziplinären Betrachtung und der Übergewichtung medizinscher Zugänge.
Insgesamt hinterfragen die Autoren gekonnt die derzeit gängigsten Konzepte in der pflegerischen Versorgung und Betreuung von Menschen mit Demenz und ermöglichen es den Leser*innen, sich anhand der aufgeführten Argumente selbst ein (kritisches) Bild über die aktuelle Situation zu machen. Aufgrund der kontroversen Diskussionen und des durchaus anspruchsvollen Schreibstils ist das Buch vor allem für erfahrene Leser*innen geeignet, die bereits über ein Grundlagenwissen zu den einzelnen Konzepten verfügen.
Eine Rezension von Jan-Hendrik Ortloff