Essen, Trinken und Demenz – Praxishandbuch für demenzfreundliche Ernährung und Mahlzeitengestaltung bei Menschen mit Demenz

essen trinken und demenz praxishandbuchvon Lee Martin

Aus dem Englischen von Elisabeth Brock; deutschsprachige Ausgabe bearbeitet und herausgegeben von Sylke Werner; mit einem Geleitwort von Stefanie Becker
Hogrefe, Bern, 2021, 288 Seiten, 32,95 €, ISBN 978-3-456-86059-6 

 

Im Jahr 2019 veröffentlichte Lee Martin – Ernährungsberater und Diätassistent am University College London Hospital mit mehr als zehn Jahren praktischer Erfahrung und wissenschaftlicher Expertise (King’s College London) – das Praxishandbuch „Practical Nutrition and Hydration for Dementia-Friendly Mealtimes“. Der Hogrefe Verlag veröffentlichte dieses Buch in der Übersetzung 2021 unter dem deutschen Titel „Essen, Trinken und Demenz. Praxishandbuch für demenzfreundliche Ernährung und Mahlzeitengestaltung bei Menschen mit Demenz“.

Nicht nur angesichts der stetig steigenden Zahl von Menschen mit Demenz (MmD), die eine adäquate soziale und pflegerische Versorgung benötigen – sondern vor allem auch mit Blick auf die Gefahr von Fehl- und Mangelernährung bei MmD hat in den letzten Jahren das Thema der Mahlzeitengestaltung international – und auch in Deutschland – erhöhte Aufmerksamkeit erfahren. Dies macht die Mahlzeitengestaltung für alle an der Pflege und Betreuung beteiligten Fachkräfte zu einem bedeutenden, aber zeitintensiven und komplexen Tätigkeitsfeld. Im Fokus stehen sowohl die Gefahr der Dehydration und damit die Gewährleistung einer ausreichenden Flüssigkeitszufuhr und Nahrungsaufnahme – als auch die Organisation der Mahlzeitenverteilung und die Beachtung von häufig vorkommenden Problemen bei Menschen mit Demenz – wie etwa Dysphagien, kognitiv-koordinative oder sozial-kommunikative Probleme. Das Praxishandbuch widmet sich „wissenschaftsbasiert“ den besonderen Bedürfnissen von Menschen mit Demenz bei der Mahlzeitengestaltung und beschreibt darauf gründend notwendige und sinnvolle organisatorische Gestaltungsmöglichkeiten sowie Interventionen der Pflegenden.

Martin strukturiert das Praxishandbuch entlang des von ihm ausführlich eingeführten Assessment-Instrument „Dementia Mealtime Assessment Tool“ (DMAT) für ihn eine „einfache Methode zur Ermittlung von Fähigkeiten zur Mahlzeitenaufnahme“. Martin hat dieses Tool seit 2011 auf Basis von zuvor überblicksartig verglichenen Assessment-Verfahren und mit Bezug auf wissenschaftlich bewertete Interventionen entwickelt. Dieses Vorgehen lässt sich kritisieren. Tatsächlich zeigen neuere Übersichts- und Vergleichsstudien, dass die Vielzahl der Assessment-Instrumente in Hinblick auf Validität und Verlässlichkeit nur begrenzt bewertet werden können. Ein Großteil der Assessments wurde zudem für wissenschaftliche Zwecke und nahezu immer für das stationäre Setting (Krankenhäuser und Pflegeheime) entwickelt. Damit vernachlässigen diese Instrumente die Perspektive von pflegenden Angehörigen und Laienpflegepersonen. Dem überwiegenden Teil der Assessmentinstrumente fehlt zudem die Verknüpfung mit praxisbezogenen Interventionen. 

Damit Menschen mit Demenz bei der Ernährung möglichst lange selbständig bleiben und ihnen auch in späteren Krankheitsstadien eine Teilhabe an den Mahlzeiten möglich wird, bezieht sich Martin auf das Empowerment von Menschen mit Demenz. Dabei vermittelt er das Erkennen von Mahlzeiten, die Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr und auch die sozialen Aspekte der Mahlzeitengestaltung als entscheidende Faktoren. Eine große Stärke des Buches ist, dass es Erkenntnisse aus der Forschung in ein praktikables Betreuungsmodell überführt, das sich prinzipiell an die jeweiligen Bedürfnisse der Betroffenen anpassen lässt. Martin strukturiert seine Darstellung in Bezug auf praktische Interventionen entlang der vier Beobachtungsfelder des DMAT: den Fähigkeiten von Menschen mit Demenz zur selbständigen Einnahme der Mahlzeiten; der Einschätzung der Ess- und Trinkgewohnheiten; der Einschätzung oraler Fähigkeiten zur Nahrungsaufnahme und schließlich des sozialen Verhaltens während des Essens
und Trinkens.

Für eine personenzentrierte Umsetzung wird das Mahlzeitenverhalten von Menschen mit Demenz beobachtet. Bei vorhandenen Einschränkungen zur Nahrungsaufnahme und zur sozialen Interaktion können Einrichtungen eine unterstützende Umgebung herstellen. Die Pflegenden können zudem auf der Basis eines personenzentrierten Pflegeverständnisses die Betroffenen adäquat betreuen und entlang ihrer persönlichen Bedarfe unterstützen. Aufbauend auf dem DMAT und den damit verknüpften Interventionen wird Pflegenden aufgezeigt, wie sie Schlüsselreize (cuing) anbieten, die Nahrungs und Mahlzeitenumgebung adaptieren oder direkte Hilfestellungen leisten können. Damit soll ihnen ermöglicht werden, individuell erfolgreiche Interventionsmöglichkeiten zu erkennen. Die den einzelnen Beobachtungen zugeordneten Interventionen haben das Ziel, die Mahlzeiteneinnahme zu vereinfachen, die Autonomie der Betroffenen zu fördern und ihre Würde trotz einer dementiellen Entwicklung zu beachten. Anschließend müssen die Maßnahmen evaluiert werden. Die Wirksamkeit der Interventionen können Pflegende alle zwei bis vier Wochen mit dem DMAT überprüfen. 

Martin verbindet in den Ausführungen zu den Assessmentfeldern die Gestaltung von Umgebungsfaktoren mit organisatorischen und unmittelbar personenbezogenen Maßnahmen. Das ist zwar angesichts der Struktur des Buches nachvollziehbar, macht es aber für die in der Praxis Pflegenden bisweilen schwierig, mit dem Buch zu arbeiten, weil Umgebungsfaktoren wie Licht und Raumgestaltung – oder organisatorische Bedingungen wie Essensplan und Zeiten der Mahlzeiten von Pflegenden nicht direkt beeinflussbar sind. 

Das Buch zeigt sehr umfassend und praxisnah, wie die Ernährung und die Mahlzeitengestaltung von und für Menschen mit Demenz zu einem personenzentrierten Prozess gemacht werden können. Aufgrund des Assessments kann der Prozess der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme individuell angepasst und können Verlaufsinformationen erhoben werden. Dennoch beschreibt es einen Idealzustand, der besondere wissenschaftliche Fachkenntnisse seitens der Pflegenden erfordert – welche jedoch von Ehrenamtlichen, Angehörigen oder Betreuungskräften in der stationären Langzeitpflege nur in begrenztem Ausmaß erbracht werden können. Schließlich verlangt der beschriebene Prozess ein kontinuierliches oder wenigstens regelmäßiges Assessment und eine ausführliche Evaluation.  Ob dieses gewährleistet werden kann, ist angesichts der personellen und finanziellen Bedingungen in der Pflege von Menschen mit Demenz nicht sicher.

Dennoch hat das Buch als Grundlagenwerk einen hohen Wert, weil es sich dem Thema in dieser Form einzigartig und umfassend widmet. Es eignet sich als Fachbuch für alle Gesundheitsfachberufe – vor allem aber für Pflegekräfte, Ergotherapeut*innen, Logopäd*innen, Ernährungsberater*innen und Betreuungskräfte. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Umsetzung im Versorgungsalltag nicht durch die einzelnen Pflegenden gewährleistet werden kann – auch, weil die Herstellung von Bezügen zu den pflegerischen Expertenstandards „Ernährungsmanagement“ sowie „Beziehungsgestaltung von Menschen mit Demenz“ eine Führungsaufgabe ist. Angesichts dessen ist es als Handbuch vor allem für Führungskräfte in der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz sowie für Lehrkräfte in der Fort- und Weiterbildung und nicht zuletzt in der Edukation von Angehörigen sehr empfehlenswert.

Eine Rezension von Jan-Hendrik Ortloff und Manfred Fiedler