Der Prozess des Diagnostizierens in der Pflege

prozess diagnostizieren pflegeBerta Schrems
Der Prozess des Diagnostizierens in der Pflege

Facultas, Wien, 2021, 388 Seiten, 32,00 €, ISBN 978-3-7089-2046-7

Pflegediagnostik und Pflegediagnosen sind seit Jahrzehnten viel diskutierte Themen. Die zunehmende Akademisierung, Professionalisierung und Spezialisierung des Pflegeberufs hat unter anderem auch zur Entwicklung verschiedener Pflegeklassifikationssysteme mit zahlreichen Pflegediagnosen geführt. Die Inhalte der Systematiken werden laufend überarbeitet und auf Basis wissenschaftlicher Fundierung werden neue Pflegediagnosen ergänzt oder bestehende aus den Klassifikationssystemen gestrichen. Zeitgleich führen mangelnde personelle, zeitliche und finanzielle Ressourcen in der Pflege zu einem vermehrten Drang nach „Entbürokratisierung“ der pflegerischen Tätigkeit. Davon sind in erster Linie jene Bereiche des Pflegeprozesses betroffen, die in der Pflegepraxis häufig mit mühsamer Schreibarbeit und Dokumentation verbunden sind, so auch die Pflegediagnostik mit ihren Pflegediagnosen. Doch damit wird eine, wenn nicht sogar die bedeutendste pflegerische Kompetenz beschnitten, welche die Grundlage jeglichen pflegerischen Handelns darstellt. Berta Schrems nahm diesen Umstand zum Anlass, sich fast 20 Jahre nach Erstveröffentlichung des Buches erneut mit der Thematik auseinanderzusetzen. Und so viel sei an dieser Stelle schon verraten: Es lohnt sich, denn der Titel des Buches ist Programm. Der Fokus liegt nicht auf dem Ziel selbst, also den Pflegediagnosen oder deren ausgefeilter Nomenklatur, sondern vielmehr auf der Betrachtung des Weges dahin, dem Prozess des Diagnostizierens selbst. Berta Schrems erörtert theoriegeleitet wie wir Pflegende erkennen, beobachten, interpretieren und bewerten, um schlussendlich zu einer Pflegediagnose zu gelangen. Dabei baut sie eine Brücke zwischen theoretischen Ansätzen der Phänomenologie, der Kognitionswissenschaften, der Systemtheorie, des radikalen Konstruktivismus und dem klinischen Pflegealltag, indem sie die Diagnostik ausgewählter Pflegediagnosen im Detail betrachtet und mit aktuellen Forschungsergebnissen fundiert ergänzt. 

Berta Schrems ist Gesundheits- und Krankenpflegerin und Pflegewissenschaftlerin. Sie studierte Soziologie und Philosophie, promovierte in Sozial- und Wirtschaftswissenschaften und habilitierte in der Pflegewissenschaft. Sie verfügt zudem über Berufserfahrung, Expertise und Weiterbildungen im Bereich Personal- und Organisationsentwicklung sowie Qualitäts- und Projektmanagement im Gesundheitswesen. Derzeit ist sie freiberuflich in Lehre, Beratung und Forschung in der Pflege als auch als Privatdozentin der Universität Wien tätig. Als Pflegewissenschaftlerin liegen ihre Forschungsschwerpunkte und Publikationen im Bereich Pflegediagnostik, Fallarbeit, Wissenschaftstheorie sowie Vulnerabilität.

Das Buch besteht aus 6 Abschnitten, welche sich insgesamt in 14 Kapitel untergliedern. Im ersten Abschnitt beschreibt Berta Schrems die Bedeutung des Diagnostizierens für die Pflege, klärt den Begriff Pflegediagnose, beschreibt Argumente für und wider selbiger und präsentiert den aktuellen internationalen Forschungsstand zum Thema Pflegediagnostik. Im zweiten Abschnitt werden die Erkenntniszugänge „Erklären“ und „Verstehen“, die Prinzipien erster und zweiter Ordnung sowie verschiedene Körpermodelle vorgestellt. Dabei werden die beiden NANDA-Diagnosen „Wissensdefizit“ und „Körperbildstörung“ herangezogen, um diese vor den unterschiedlichen beschriebenen theoretischen Hintergründen zu beleuchten. Damit wird deutlich gemacht, dass verschiedene theoretische Betrachtungsweisen sich maßgeblich auf den Interpretationsspielraum von Pflegediagnosen auswirken, was wiederum die Ableitung von Pflegehandlungen beeinflusst. Im dritten Abschnitt werden Grundlagen der Kognitionswissenschaften sowie der Emotionstheorie beschrieben und am Beispiel der NANDA-Diagnosen „Angst“ und „Furcht“ reflektiert. Im vierten Abschnitt werden Bedeutungszuschreibung und Kontext in den Mittelpunkt gerückt. Im fünften Abschnitt liegt der Schwerpunkt auf dem Thema Beobachtung und wie komplexe Informationen gezielt reduziert werden können. Durch Beobachtung können Unterschiede festgestellt werden, was wiederum zu einer Grenzziehung führt und die Reduktion von Komplexität zur Folge hat. Dies wird an der NANDA-Diagnose „unwirksames Gesundheitsmanagement“ exemplarisch verdeutlicht. Den Abschluss bildet der sechste Abschnitt, welcher die Themen Sprache, Körpersprache, Fachsprache und Kommunikation in den Mittelpunkt rückt. Dieser Abschnitt geht dabei über die verbale Kommunikation hinaus und erörtert zudem auch die Bedeutung und Funktion von Symbolen und Metaphern. Am Ende werden Pflegediagnosen als Kommunikationsinstrument und Fragen als Form der Mitteilung diskutiert.

Berta Schrems hat sich in ihrem Buch das Ziel gesetzt, einen vertieften Einblick in den Prozess des Diagnostizierens in der Pflege zu geben, um das Lehren und Lernen desselbigen zu unterstützen. Losgelöst von gängigen Klassifikationssystemen und Taxonomien werden Abschnitt für Abschnitt unabhängige Werkzeuge des Denkens und Verstehens bereitgestellt und an Beispielen reflektiert. Eindrücklich wird gezeigt, dass das Wahrnehmen, Interpretieren und Verstehen der individuellen Situation eines Menschen eine herausfordernde und zugleich bedeutende pflegerische Tätigkeit ist. Dabei liefert Berta Schrems mit diesem Buch kein wissenschaftstheoretisches Standardwerk ab, welches die verschiedenen erkenntnistheoretischen Ansätze im Detail vorstellt und beschreibt. Ganz im Gegenteil: Es grenzt sich sichtlich von diesen Standardwerken ab, indem die erkenntnistheoretischen Ansätze mit Fokus auf die Pflegediagnostik betrachtet, angewandt und anhand von pflegerelevanten Beispielen diskutiert werden. Dabei schadet es nicht, wenn man Grundlagenwissen zu Wissenschafts- und Erkenntnistheorie mitbringt, auch wenn sich die Autorin die Zeit nimmt, deren Grundgedanken zu skizzieren und in die spezifischen Denkweisen einzuführen. Die damit verbundene Literatur ist umfassend, aktuell und berücksichtigt gleichermaßen die nationalen wie internationalen Entwicklungen. Das hohe sprachliche, inhaltliche sowie wissenschaftliche Niveau findet sich in allen Kapiteln wieder und wird stringent gehalten. Die einzelnen Kapitel werden zudem von einführenden Geschichten, treffenden Zitaten, aktuellen Forschungsergebnissen, praxisnahen Exkursen, vertiefenden Denkübungen und weiterführenden Fragen begleitet. Für Lehrende tut sich damit ein reichhaltiger Ideenfundus auf, welcher für die Gestaltung von Seminaren, Kleingruppenarbeiten oder Diskussionen genutzt werden kann. Umso ernüchternder ist es, dass die aktuelle Auflage aus dem Jahr 2021 die gleichen kleinen, teilweise unscharfen und lediglich in Graustufen gehaltenen Abbildungen und Bilder beinhaltet wie das Werk aus dem Jahr 2003. Farbig neugestaltete Grafiken hätten den Charme eines alten Sachbuches verblassen lassen und würden der Gestaltung eines modernen Fachbuches eher gerecht werden.

Berta Schrems gelingt mit diesem Werk ein fundiertes und zugleich lebendiges Lehr- und Arbeitsbuch, das weniger für die praktische Umsetzung geeignet ist, sondern vielmehr zum Nachdenken anregt. Am Ende bleiben mehr Fragen offen als Antworten gegeben werden. Und das ist auch gut so. Denn damit schürt sie die Neugier in uns, ebenso wie sie in die Tiefen des diagnostischen Prozesses abzutauchen. Damit richtet sich das Buch weniger an Pflegende in der Praxis, sondern eher an Lehrende und Lernende, die sich intensiv mit dem Thema Pflegediagnostik und dem Prozess des Diagnostizierens auseinandersetzen wollen.

Eine Rezension von Florian Schimböck, M. Sc, M. Ed