Gewalt in Pflege, Betreuung und Erziehung

9783779937654Schröder, Julia (Hrsg.)
Gewalt in Pflege, Betreuung und Erziehung
Verschränkungen, Zusammenhänge, Ambivalenzen

Beltz Juventa, Weinheim-Basel, 2019, 218 S., 29,95 €, ISBN 978-3-7799-3765-4

Das vorliegende Buch geht auf eine Tagung „Für_Sorge? Gewalt im Kontext von Care und prekärer Organisation“ zurück, die im März 2017 am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim stattfand. Kooperationspartner war der Forschungsverbund care@work, der aus Mitarbeiter/innen des Instituts besteht und sich interdisziplinär aus rechtlicher, sozialwissenschaftlicher und sozialpädagogischer Perspektive mit Aspekten der Organisation von Care beschäftigt. Bei den 14 Autoren/-innen handelt es sich mit einer Ausnahme (Theologe) um Frauen, die im Bereich der Sozial-/Organisations- und Pädagogik, Soziologie und Jurisprudenz tätig sind.

Die Herausgeberin umreißt im Vorwort das Thema des Buches. Die erläutert dabei den Begriff „Care“, der das Tätigkeitsspektrum des Sich-Kümmerns, der Unterstützung umfasst, wobei dabei zunächst nicht von Bedeutung ist, ob diese privat oder professionell erfolgt.

Im Weiteren ist das Buch in vier Abschnitte gegliedert:

  • Was ist Gewalt in Sorgekonstellationen?

Die Herausgeberin (Sozialpädagogin) führt ausgehend von zwei typischen Beispielen (pflegebedürftige alte Frau verweigert Flüssigkeit und Nahrung; eine Vierjährige möchte im Winter ein Sommerkleid anziehen) in den Stand der Forschung zum Thema „Gewalt im Kontext von Care“ ein. Dabei wird deutlich, dass „das Phänomen Gewalt mintunter forschungsmethodologisch weniger eindeutig zu fassen ist, zwischen verschiedenen Disziplinen liegt und sich als normativ hochaufgeladener Begriff kaum veralltäglichen lässt.“ Julia Schröder plädiert für eine Ausdifferenzierung des Gewaltbegriffs. Claudia Harder (Sozialpädagogin) beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Einschränkung als Form von Gewalt in der Hilfe und Pflege von Menschen mit körperlicher Behinderung. Sie ordnet Gewalt in diesem Bereich der strukturellen Gewalt im Sinne Galtungs zu.

  • Gewalt im Kontext institutioneller Sorge

Sophie Domann (Erziehungswissenschaftlerin), Carolin Oppermann (Sozialpädagogin) und Tanja Rusack (Sozialpädagogin) beschäftigen sich mit institutionellen Schutzkonzepten, wobei der Focus auf Kinder- und Jugendeinrichtungen liegt. Sie plädieren für eine partizipative Organisationsentwicklung. Veronika Winter (Pädagogin) und Mechthild Wolff (Pädagogin und Theologin) stellen Konzepte des E-Learnings von Schutzkonzepten in pädagogischen Organisationen vor. Lucia Artner (Kulturanthropologin und Ethnologin) reflektiert über „Gewalt durch Dinge?“ Sie beschäftigt sich mit den räumlich materiellen Voraussetzungen, die dazu beitragen, dass ein Pflegeheim zu einer totalen Institution wird.

  • Gewalt im Kontext häuslicher Sorge

Jonas Hagedorn (Theologie) unternimmt eine sozialethische Betrachtung über Anerkennungsdefizite und Machtasymmetrien in der häuslichen Pflegearbeit. Dabei geht es nicht nur um das so schon nicht immer problemlose Miteinander von Angehörigen und Mitarbeitern professioneller Pflegedienste. Der Autor nimmt darüber hinaus die sog. „Live-Ins“, die 24-Stunden-Betreuungs- und Pflegekräfte in den Focus. Als Fazit stellt er fest: „Pflegende Angehörige und ‚Live-Inn‘-Pflegekräfte sind sowohl mit dem Moment doppelter Asymmetrie als auch mit fehlender sozialer Wertschätzung im gesellschaftlichen Leistungsaustausch konfrontiert. In einer besonders vulnerablen Situation befinden sich (nichtselbstständige) ‚Live-Inn‘-Pflegekräfte, da ihre ‚Arbeitgeber_innen’ zumeist nicht für ordnungsgemäße Arbeitsverhältnisse in die Pflicht genommen werden können; zudem betrifft die Fragilität ihres Gaststatus nicht nur ihre Haupteinkommensquelle, sondern auch ihre Unterkunft in Deutschland.“ Nastassia-Laila Böttcher (Sozialpädagogin) beschäftigt sich mit Metaphern einer (gewaltbereiten) jungen Mutter. Wibke Frey (Juristin) informiert unter der Überschrift „Gewaltabbau und Freiheitserhalt“ über die Vielschichtigkeit des Gewaltbegriffs in der Rechtsprechung. Sie resümiert: „Insgesamt lässt sich … festhalten, dass jedwede Strategie zur Vermeidung von freiheitsentziehenden Maßnahmen oder allgemein Gewalt interdisziplinär erarbeitet werden muss. Das Recht und die Rechtswissenschaft kann bestenfalls Auskunft darüber geben, wer aktuell vor was geschützt wird.“ Es sei erwägenswert, in Gesetzestexten ganz auf den Begriff „Gewalt“ zu verzichten.

  • Gewalt, Geschlecht und Sorge

Irmgard Diewald (Sozialpädagogin) beschäftigt sich mit der Konstruktion von Männlichkeit in Bezug auf sexualisierte Gewalt in Kindertagesstätten. Hier geht es zentral um das Paradoxon, dass gesellschaftlich einerseits mehr Männer als Erzieher in der Elementarpädagogik erwünscht werden, andererseits diese Männer dann aber unter den Generalverdacht gestellt werden, Kinder zu missbrauchen. Daniela Böhringer (Soziologin) legt in ihren Ausführungen dar, wie interaktiv Gewalt im Gespräch verarbeitet werden kann. Sybilla Flügge (Juristin) zeigt im letzten Beitrag die Ursachen von Gewalt im Kontext von familiären Abhängigkeiten auf. Dabei stehen die Entwicklung von Frauenrechten bzw. die Überwindung von patriarchalen Strukturen im Vordergrund. Wer als Pflegende/r das Buch aufschlägt, weil ihm der Anfang des Titels ins Auge gestoßen ist, wird wohl etwas enttäuscht. Das Phänomen „Gewalt in typischen Pflegebeziehungen“ wird nur mit einigen Facetten beleuchtet, was auch schon daran deutlich wird, dass zu der Tagung kein Pflegewissenschaftler eingeladen war. Gleichwohl ist die Lektüre auch für Angehörige der Pflegeberufe lohnend. Alle Beiträge vermitteln Ansätze, wie Gewalt in Pflege, Betreuung und Erziehung erforscht werden kann. Die Ausführungen über die räumlich-materiellen Voraussetzungen einer totalen Institution Pflegeheim sind für alle, die in diesem Bereich tätig sind, überaus bedenkenswert. Das Gleiche gilt für die Betrachtungen über die Anerkennungsdefizite und Machtasymmetrien in der häuslichen Pflegearbeit. Die beiden juristischen Beiträge sind allemal beachtenswert.

Kritisch anzumerken ist, dass dem Buch ein etwas sorgfältigeres Lektorat gutgetan hätte. Einige Anmerkungen:

  • Auch wenn man bereit ist, anzuerkennen, dass es in Wissenschaften eine spezifische Sprache gibt, bedeutet dies aber nicht, dass man diese in Publikationen unbedingt gutheißen muss. Ein Lektor hätte in den meisten Beiträgen vielfältig einzugreifen gehabt. Vor dem Hintergrund, dass juristischen Ausführungen gerne attestiert wird, dass sie schwer verständlich sind, entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet die Beiträge der beiden Juristinnen in diesem Buch mit am besten zu lesen sind.
  • Mitunter wird die Lesbarkeit auch durch eine doch sehr willkürliche Zeichensetzung erschwert; dies macht sich im Besonderen bei langen Schachtelsätzen bemerkbar.
  • Ein Lektor hätte zumindest darüber stolpern müssen, dass es auf Seite 155 im Zusammenhang mit dem genehmigungspflichtigen Anbringen von Bettgittern – der eigentlich unmögliche Begriff sei hier nicht kritisiert, da er leider immer noch weit verbreitet ist – heißt: „Bei völlig mobilen Menschen läge dagegen keine Freiheitsentziehung und damit auch keine Freiheitsberaubung vor.“ Dies ist nur unter der Annahme richtig, dass bei einem völlig mobilen Menschen unterstellt wird, dass er über das Bettgitter klettern kann und somit nicht seiner Freiheit beraubt wird. Dies ist aber sicher nicht gemeint, denn es wäre dann der Tatbestand der Bewohner-/Patientengefährdung erfüllt. Vermutlich fehlen einfach zwei Buchstaben – es muss wohl heißen „Bei völlig immobilen Menschen“.

Eine Rezension von Paul-Werner Schreiner