Palliative Care aus sozial- und pflegewissenschaftlicher Perspektive

9783779937111 2Kreutzer, S. (Hrsg.)

Palliative Care aus sozial- und pflegewissenschaftlicher Perspektive

Beltz Juventa, Weinheim-Basel, 2019, 395 S., ISBN: 978-3-7799-3711-1

Mittlerweile hat sich eine fünfte Form der Versorgung, neben Gesundheitsförderung, Prävention, Kuration und Rehabilitation etabliert: Palliative Care. Diese Versorgungsform, die wesentlich auf die Hospizbewegung und auf deren ehrenamtliches Engagement zurückgeht, hat noch viel Entwicklungs- und Einflusspotenzial. Im Sammelband Palliative Care aus sozial- und pflegewissenschaftlicher Sicht beleuchten die Artikel mehrperspektivisch Herausforderungen und Chancen sowie neue Erkenntnisse, thematisch gegliedert unter fünf Schwerpunkten, die jeweils zwei bis vier Artikel umfassen.

Die Herausgeberinnen lehren an der Fachhochschule Münster im Fachbereich Gesundheit, Susanne Kreutzer als Professorin, Claudia Oetting-Roß als Junior-Professorin und Meike Schwermann als Lehrkraft für besondere Aufgaben.

 Mit diesem Buch hoffen die Herausgeberinnen, den Blick auf das Handlungsfeld Palliative Care weiter öffnen und den Anstoß für einen Paradigmenwechsel in der gesamten Gesundheitsversorgung bzw. in Versorgungsprozessen geben zu können. Ein solcher Paradigmenwechsel würde vor allem darin bestehen, dass die Grundsätze von Palliative Care – etwa interdisziplinäre, enthierarchisierte und respektvolle Zusammenarbeit, eine subjektorientierte Begleitung sowie ein verstehender Zugang – beachtet und das Denken und Handeln zukünftig leiten werden.

Die fünf Schwerpunkte des Sammelbandes umfassen:

I. Theoretische Dimensionen von Palliative Care

Hartmut Remmers gibt einen dezidierten Einblick über „Philosophische Dimensionen. Die Endlichkeit personalen Lebens“. Der Autor rekonstruiert „theoriegeschichtlich die philosophische Auseinandersetzung mit der Endlichkeit menschlichen Lebens“ (S. 21) mit dem Ziel, dass persönliche lebensgeschichtliche identitäts- und sinnstiftende Orientierungen in die palliative Versorgung einfließen.

Traugott Roser widmet sich in seinem Artikel den „Christlich-Theologischen Dimensionen der Hospizarbeit“. Eindrücklich plädiert er dafür, Seelsorge als „Leibsorge“ zu verstehen, „als Sorge für den Menschen, der in seiner Leiblichkeit in der Welt ist, aber nicht in seiner Körperlichkeit aufgeht“ (S. 62).

Die – theoretische und praktische – Entwicklung von Sterbebegleitung im 19. und 20. Jahrhundert untersuchen Susanne Kreutzer und Karen Nolte in ihrem Artikel „Palliative Care in historischer Perspektive“.

Manfred Baumann und Helen Kohlen stellen die Frage „Welche Ethik braucht Palliative Care? Ein Plädoyer für eine Ethik der Sorge“. Sie fokussieren die verschiedenen Seiten und Personen im palliativen Bereich, die nicht nur für die Anderen Sorge tragen, sondern auch für sich selbst sorgen müssen.

II. Palliative Care in Anspruch nehmen

Marcus Garthaus, Sara Marquard, Britta Wendelstein, Andreas Kruse und Hartmut Remmers beleuchten vor dem Hintergrund der Erfahrungen eines explorativen Forschungsprojektes die „Kommunikation am Lebensende aus Sicht schwerkranker und sterbender Menschen“. Das zentrale Ergebnis dieser Studie ist, dass soziale und kommunikative Kompetenzen des (Pflege-)Personals, gerade im Bereich Palliative Care, explizit dazu beitragen können, Leid und Belastungen zu reduzieren und Lebensqualität zu fördern.

Der nachfolgende Artikel von Claudia Oetting-Roß widmet sich der „Pädiatrischen Palliativversorgung. Die Sicht der lebenslimitierend erkrankten Kinder und Jugendlicher“.

Die „Angehörigen in der häuslichen Hospiz- und Palliativversorgung“ ist die Personengruppe, die Christiane Kreyer und Sabine Pleschberger in ihrem Artikel thematisieren. Sie konzentrieren sich darauf, wie Angehörige die letzte Lebensphase einer schwerkranken Person im häuslichen Umfeld erleben und bewältigen und wie die Sicht des Personals auf eben diese Angehörigen ist.

III. Palliative Care erbringen

Im ersten Beitrag dieses Schwerpunktes von Julia von Hayek und Werner Schneider wird das „Sterben zu Hause und im Heim. Hospizkultur und Palliative Care in der ambulanten und stationären Pflege“ diskutiert. Ehrenamtlich tätige Menschen sind ein fester „Bestandteil“ in Palliative Care, aber „Gehören Ehrenamtliche zum ‚Team?‘ Einige Anmerkungen zu Weiterbildungs-Curricula im Kontext von Palliative Care“, so der Titel des Aufsatzes von Susanne Fleckinger. Sie stellt ihre empirische Studie vor, die Curricula für hauptamtlich tätiges Personal dahingehend untersucht hat, ob die Zusammenarbeit von Haupt- und Ehrenamtlichen berücksichtigt wird.

Im Beitrag „Soziale Arbeit und Palliative Care“ von Hugo Sebastian Mennemann geht es um zwei grundsätzliche Paradoxien, und zwar dergestalt, dass Soziale Arbeit professionelle „Natürlichkeit und unmittelbare Mitmenschlichkeit ermöglichen soll“ sowie „Orte zur Ermöglichung von Mitmenschlichkeit und Teilhabe“ (S. 234), Sterben und Tod sich aber nicht begrenzen lassen. „Leibphänomenologische Erkenntnisse aus der Begleitung Schwerstkranker und Sterbender“ beleuchtet Dorothèe Becker. Spüren und berühren in der Pflege können bis zum Lebensende einen Zugang zu und Kommunikation mit Menschen ermöglichen.

IV. Palliative Care organisieren

„Strukturelle Herausforderungen der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung für Kinder und Jugendliche (SAPV-KI) am Beispiel Niedersachsen“ beschreibt Kerstin Kremeike. Sie nimmt aktuelle und zukünftige Aufgaben in ländlichen Regionen in den Blick.

Die Autoren Michael May und Christian Schütte-Bäumner untersuchen SAPV-Teams im Hinblick auf transdisziplinäre Professionalität, psychosoziale Aufgaben und Begleitung und zeigen Möglichkeiten einer „Psychosozialen Organisationsgestaltung in ambulanten Settings des Palliative Care“ auf.

Die „Förderung der ethisch-moralischen Kompetenz durch die Implementierung von Palliative Care im Altenpflegeheim“ hat sich Meike Schwermann zur Aufgabe gemacht. Margit Gratz, Meike Schwermann, Christoph Bertels und Traugott Roser zeigen auf, dass Klärungen mittels Fallbesprechungen nicht nur herbeigeführt, sondern auch in die Organisation einfließen können. Dafür bedarf es vor allem einer guten Moderation. Der Titel ihres Artikels lautet: „Unklare Situationen klären mittels Palliativer Fallbesprechung. Kompetenzen in der Moderation“.

V. Palliative Care erforschen

Auf die umfassenden An- und Herausforderungen von Forschung im Bereich Palliative Care geht Sabine Pleschberger in ihrem Artikel „Im Feld Palliative Care forschen. Methodische und ethische Herausforderungen“ ein. Eine Konzeption zur „Sterbebegleitung in Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger und schwerer Behinderung“ stellen Sven Jennessen und Kristin Werschnitzke auf der Basis ihrer Forschungsprojektergebnisse vor.

Dieser Sammelband überzeugt durch die gut „komponierten“ fünf Themenschwerpunkte und mit der hohen Qualität und Tiefe der einzelnen Beiträge, die diesen zugeordnet sind.

Eine sprachliche Kritik sei hier allerdings angemerkt: Die Verwendung des Begriffes nicht ärztliche Fachkräfte (S. 220, 222) wertet Berufe bzw. Professionen ab und zementiert eine Hierarchie und ärztliche Deutungshoheit, die längst als überholt betrachtet werden sollte, insbesondere in einem Tätigkeitsfeld, das wie zu Recht eingangs beschrieben wird „die Zusammenarbeit beteiligter Professionen sowie die Einbindung der unterschiedlichen Perspektiven und Professionen in Forschung und Praxis“ (S. 9) als unabdingbar ansieht.

Gleichwohl ist dieser Sammelband unbedingt zu empfehlen, da er tatsächlich eine breite Sichtweise eröffnet, komplexe Fragen benennt und diese zu beantworten sucht sowie die vielschichtigen und auch exklusiven Herausforderungen im palliativen Bereich fundiert aufgreift und Lösungen bzw. Anregungen für Lösungsprozesse vorstellt. Es ist zu hoffen, dass die Überlegungen und Erkenntnisse, die mittels dieses Sammelbandes angeregt und gewonnen werden können, tatsächlich einen Richtungswechsel im Gesundheitswesen bewirken können – im Denken, in Haltung und Handlung, in Organisation und Management, im transdisziplinären Miteinander, in der Forschung und vor allem in der Interaktion von Mensch zu Mensch.

Eine Rezension von Prof.in Dr.in Gudrun Piechotta-Henze