Maio - Mittelpunkt Mensch

Maio
 
Maio, G.
Mittelpunkt Mensch
Lehrbuch der Ethik in der Medizin (mit einer Einführung in die Ethik in der Pflege)
Schattauer, Stuttgart, 2017, 2. Aufl., 526 S., 32,00 €, ISBN 978-3-7945-3066-3

Dieses Buch – von der Kritik als „Nachdenkbuch“ gewürdigt – erscheint in einer vollständig überarbeiteten 2. Auflage mit weiteren 12 (Unter)-Kapiteln. Es geht um das Verhältnis von Medizin und Ethik – von der Embryonen- und Stammzellenforschung bis hin zur Ethik am Ende des Lebens. Autor ist der Arzt und Philosoph Maio, der an der Universität Freiburg einen Lehrstuhl für Medizinethik hat und dort Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte in der Medizin ist. Er ist in der Diskussion um ethische Fragen in der Medizin durch profilierte Positionen insbesondere zur Ökonomisierung des Gesundheitswesens hervorgetreten. In jüngster Zeit hat er sich auch zu Pflegethemen immer wieder geäußert und jetzt sogar eine eigenes Pflegethikkapitel in das Buch aufgenommen. Dies mag legitimieren, warum ein Pflegewissenschaftler diese Rezension verfasst.

Das umfassende Buch besteht aus 9 großen Kapiteln, die wiederum in insgesamt 35 Unterkapitel bzw. Abschnitte aufgeteilt sind. Interessant ist bereits der Beginn, denn hier wird die Medizin als „praktische Wissenschaft im Dienste des Menschen“ (S. 3) vorgestellt und eben nicht als angewandte Naturwissenschaft. Mit dieser Bestimmung ist verbunden, dass die Medizin über ihr Verhältnis zum Menschen nachdenken muss. In diesem Zusammenhang ist vor allem die ethische Grundreflexion entscheidend, denn diese fragt nach dem Guten für den Menschen. Sie wird von Maio als „integraler Bestandteil“ (S. 3) der Medizin herausgestellt. Und das geschieht wie folgt:

Kapitel I: Hier wird in die philosophischen Grundlagen eingeführt. Neben einigen Grundbegriffen wird auf verschiedene Ethikformen rekurriert, die für die Medizin wichtig sind: Pflicht-, Diskurs- und Tugendethik sowie der Utilitarismus. Es wird gezeigt, dass jede dieser Perspektiven für die Medizin wichtig ist, aber im wohl abgewogenen Verhältnis zueinander stehen und reflektiert werden müssen. Beispielsweise wird die Tugendethik durchaus als eine Ergänzung der Sollensethik verstanden: „Sie kann durch die Entwicklung entsprechender Einstellungen, Dispositionen und Charaktereigenschaften dazu verhelfen, das moralisch Gebotene nicht nur besser zu erkennen, sondern auch zu seiner Realisierung bereit zu sein“ (S. 86). Diese habituelle Formung ist für die Medizin – wenn sie gute Medizin sein will – unerlässlich, das Gleiche gilt auch für eine gute Pflege.

Kapitel II: Ein kurzer Blick in die Geschichte macht sehr deutlich, welche z.T. substanziellen Änderungen die Medizin erfahren hat. Auch wenn heute noch der Eid des Hippokrates geschworen wird, so haben sich die therapeutischen Vorstellungen grundlegend geändert. Der Überblick über die verschiedenen Konzeptionen ab dem 16./17. Jahrhundert (Maschinenmodell versus Lebenskraft, von der Lebenskraft zur Zelle, von der Zelle zur Bakteriologie) machen den Leserinnen und Lesern deutlich, dass die Medizin nicht „naturgegeben“ ist, sondern abhängig von den sie prägenden gesellschaftlichen Erwartungen. Keine dieser Konzeptionen darf verabsolutiert werden. Und auch heute gilt es, dem immer stärker dominanten Modell einer ökonomisierten Medizin kritisch gegenüberzustehen und alternative Ansätze mit zu bedenken.

Kapitel III/IV/VI: Im Vordergrund stehen die „Grundbegriffe der Medizin“: Krankheit, Gesundheit, Indikation, „ärztliche Kunst“. Auch hier wird herausgearbeitet, dass letztlich der Mensch in seiner Ganzheit zu sehen und zu verstehen ist – auch wenn dies theoretisch und praktisch eine Herausforderung darstellt. Denn sowohl der Begriff der Krankheit wie auch der der Gesundheit sind durch unterschiedliche Zugänge und Verständnisse charakterisiert. Beide Termini beanspruchen objektive Gültigkeit(en), etwa durch wissenschaftliche Diagnose- und Untersuchungsverfahren. Aber unbestritten sind die subjektiven Komponenten, ohne dass an dieser Stelle einem Relativismus das Wort geredet werden muss. So wird deutlich – und das wird vor allem in Kapitel IV ausgeführt – dass am Ende eine hermeneutische Kompetenz für den guten Arzt unverzichtbar ist. Damit sind weniger abstrakte Theorien gemeint als die Fähigkeit, sich in den anderen einfühlen zu können, seine Deutungsmuster zu verstehen und aus einer wohl verstandenen Distanz heraus den anderen als anderen sehen zu können. Hinzu kommen zwei weitere Bausteine, die als „methodische Ansätze der Medizinethik“ dargestellt werden: die Prinzipienethik und die Ethik der Sorge (Care-Ethik). Bei der Prinzipienethik liegt der Akzent auf den von den Begründern der modernen Medizinethik, Beauchamp und Childress, vorgestellten vier Prinzipien, nämlich der Autonomie, des Nicht-Schadens, des Wohltuns und der Gerechtigkeit. Die Ethik der Sorge wird ebenfalls beachtet, wobei eine breitere Perspektive eingenommen wird als in der (feministischen) Care-Ethik (vor allem Conradi, Gilligan, Kohlen). Diese „Geschlechterethik“ wird von Maio als „wenig weiterführend“ (S. 186) beschrieben, stattdessen – grundlegender – auf das Sorgemotiv von Heidegger und die Fürsorgekonzeption von Ricoeur abgehoben. Die grundlegenden Merkmale der Care-Ethik (Angewiesenheit auf andere, Sein in Beziehung, Singularität etc.) werden für die Medizinethik als bedeutsam herausgestellt. Verwunderlich ist allerdings, dass in Kapitel VI ein eigenes Kapitel zur „Ethik der Pflege“ eingefügt wurde, bei dem jedoch nur ansatzweise das komplexe Feld der Pflege(ethik) betreten wird. Stattdessen liegt der Fokus auf einigen Besonderheiten und dem Arbeitsmodus der Pflege. Hier würde man sagen, dass noch Luft nach oben besteht und die Arbeiten von Lay, Riedel, Monteverde, Schrems und Remmers – um nur einige deutsche Autorinnen und Autoren zu nennen – auch mit einbezogen werden sollten. Denn im Vorwort würdigt Maio die Pflege als „eine zentrale Disziplin mit eigener Zielsetzung, eigener Methodik und eigenem Wert“ (S. VI). Ob diese Eigenständigkeit jedoch eingelöst werden kann, wenn die Pflege als „Teil der Medizin“ (S. VI) aufgefasst wird, darüber lässt sich trefflich – auch mit Pflegeethikerinnen – streiten.

Kapitel (V): Hier wird vor allem der Schwerpunkt auf die Interaktion von Arzt und Patient gelegt. Das Spannungsfeld zwischen der Berücksichtigung der Autonomie des Patienten und der Beachtung seines Wohls wird problematisiert. Auch die Grenzen des Patientenwunsches wie auch des ärztlich Verantwortbaren werden bedacht. Vor allem die Fallbeispiele, die sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch ziehen, sind beeindruckend. In keinem Bereich lässt sich das Spannungsgefüge zwischen Freiheit und Zwang so deutlich konkretisieren wie in der Psychiatrie. Am Beispiel der Ablehnung einer HIV-Therapie bei Schizophrenie zeigt Maio sehr eindrücklich, dass das ethische Dilemma darin besteht, dass der Arzt einerseits gegenüber Patienten jede Zwangsbehandlung unterlassen sollte, andererseits ihnen keine wirksame Behandlung vorenthalten darf. Denn auch wenn eine chronische Schizophrenie besteht, muss der authentische Wille der Person rekonstruiert werden. Denn es wäre ärztlich nicht zu legitimieren, wenn dem Patienten – angesichts Behandlungsablehnung bei fehlender Krankheitseinsicht – eine notwendige Hilfe verweigert wird, die bei adäquater Realitätswahrnehmung akzeptiert würde. Mehr noch – der Fokus auf die Autonomie, der heute im Gesundheitswesen populär geworden ist, kann auch als Zeichen von Gleichgültigkeit gewertet werden.

Kapitel VII: In diesem ausführlichsten Kapitel des gesamten Buches werden „Spezialthemen der Ethik in der Medizin“ verhandelt. Den Beginn macht die Forschung mit Embryonen und Stammzellen, es folgen Ausführungen zu Pränataldiagnostik und Schwangerschaftsabbruch. Ergänzt werden diese Problematisierungen durch Hinweise zur Präimplantationsdiagnostik, der Reproduktionsmedizin und zu der prädiktiven Gendiagnostik. Eingeordnet werden müssen diese Felder letztlich in grundlegende Überlegungen zur Forschung am Menschen und zur Ethik in den Neurowissenschaften. In den genannten Spezialthemen erfolgt nicht ein einfaches Pro und Contra, sondern ein ethisch begründetes Abwägen mit klaren Hinweisen auf die Position des Autors. Am deutlichsten scheint mir dies in den Unterkapiteln zur Ökonomisierung in der Medizin und zur wunscherfüllenden Medizin bzw. dem Enhancement zu sein. Hier stellt Maio bereits durch das Eingangszitat heraus, dass die ärztliche Kunst eben kein Handelsgeschäft ist und sich – wenn sie nicht ihren Wesenskern aufgeben möchte – substanziell diesen Prozessen entziehen bzw. diese kritisch reflektieren muss. Denn die Arzt-Patient-Beziehung setzt Vertrauen voraus, und zwar dahingehend, dass die Indikation berechtigt, die Therapie notwendig und der Einsatz der Mittel verantwortbar ist. Auch die Einsicht in die Grenzen dessen, was aus ärztlicher Sicht sinnvoll ist (womit begründet wäre, dass Maßnahmen unterbleiben) würde hier in Frage gestellt, wenn die genannten Orientierungen weiter voranschreiten. Der Hauptkonflikt besteht darin, „dass die Medizin von ihrem Grundverständnis her der Sorge um den Kranken verpflichtet ist, die Ökonomie hingegen die Maximierung des Nutzens verfolgt“ (S. 404).

Kapitel VIII/IX: Den Abschluss bilden Ausführungen zur Ethik am Ende des Lebens und zum Menschenbild. Das kluge und sachverständige Urteil des Autors zeigt sich auch hier, z.B. in der Einschätzung der Diskussion um den Hirntod. Es gibt hier keine endgültige Wahrheit, denn – philosophisch geschult – merkt der Autor an, dass es hier „nicht um Fakten geht, sondern letzten Endes um einen unvermeidbaren sozialen Aushandlungsprozess im Hinblick auf die Frage, wie viel Integrationsleistung (des Gehirns – HB) erforderlich ist, um noch von einem lebenden Menschen sprechen zu können“ (S. 430). Grundlegend sind die kritischen Reflexionen zu den vorherrschenden Menschenbildern in der modernen Medizin: Der Mensch als Mensch-Maschine, der Mensch als souveränes und autarkes Wesen, der Mensch als atomistisches Einzelwesen, der Mensch als das Machbare. Maio zeigt, dass „jedes dieser Menschenbilder seine Berechtigung hat, da sie alle zu einer Verbesserung der Medizin beigetragen haben. Allerdings erweisen sie sich bei genauer Betrachtung als zu einseitig, um der Medizin als sozialer Praxis gerecht zu werden“ (S. 478). Das zeigt sich vielleicht in der momentan größten Herausforderung der modernen Medizin. Die besteht darin, alle philosophischen und theologischen Bedenken über Bord zu werfen und dem Menschen in seiner Machbarkeitsvorstellung als Dienstleistung total verfügbar zu sein. Wenn die Medizin dies tut, dann verändert sie sich fundamental. Daher ist – als Epilog – ein Gegenentwurf für eine zukunftsweisende Medizin zwingend. Und der betont die Vulnerabilität, die Anteilnahme und die Zuwendung, letztlich die Sorge um den ganzen Menschen. 

Fazit: Unschwer ist bereits erkennbar, dass hier eine ganz herausragende Publikation vorliegt. Sie wendet sich an die gesamte Medizin (und Pflege), vor allem aber an Studentinnen und Studenten. Was ist neu? Ich würde sagen, dass (durchaus im Sinne der Lehre von der „richtigen Mitte“ bei Aristoteles) hier genau das richtige Maß gefunden wurde zwischen fachlich-wissenschaftlicher Spezialisierung, philosophisch-ethischen Reflexionen und praktischen Bezügen (durch insgesamt 44 Patientengeschichten). Und der Nutzen besteht darin, dass nicht nur Studentinnen und Studenten der Medizin in die Grundlagen der modernen Medizin eingeführt werden. Vom Aufbau, Inhalt und der Gestaltungsweise werden auch bereits praktizierende Ärztinnen und Ärzte profitieren, die vor allem die Kommentare des Autors zu schätzen werden. Alle diese Personengruppen (und ich würde auch die Pflege einschließen) werden durch dieses Buch ein Verständnis darüber erlangen, was die Medizin ist, was zu ihrem Kerngeschäft gehört und was sie lieber lassen sollte. Das kann nur jemand formulieren, der – aus der Medizin kommend – dennoch neben sie zu treten gelernt hat. Nur eine grundlegende Perspektive kann die Medizin letztlich als Kunst verstehen, die mehr ist als bloße Technik, Handwerk oder Geschäft. Dieser Zugang ist wichtig für alle, die eine gute Medizin machen wollen bzw. die Protagonisten darin erinnern wollen (und müssen). Zwar ist die Lektüre des Buches mit über 500 Seiten nicht gerade kurzweilig, aber sie lohnt sich. Und es gibt nur wenige Medizinbücher, die ich in den Kanon der pflegewissenschaftlichen Literatur einordnen würde – dies gehört ganz sicher dazu.
 
Eine Rezension von Prof. Dr. Hermann Brandenburg
Lehrstuhl für Gerontologische Pflege
Pflegewissenschaftliche Fakultät der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar