Behrens - Theorie der Pflege und der Therapie

9783456859163 COP Behrens
 
Behrens, J.
Theorie der Pflege und der Therapie
Grundlagen für Pflege- und Therapieberufe
Mit einem Nachwort von Prof. Dr. Michael Schulz
Hogrefe, Bern, 2019, 264 S, 28,95 €, ISBN 978-3-456-85916-3

Prof. Dr. (habil.) Johann Behrens ist in der Welt der Pflege wohl bekannt: Der diplomierte Sozialwissenschaftler und Supervisor ist u.a. (Mit-)Begründer des German Centers of Evidence-based Nursing und langjähriger Direktor des Institutes für Gesundheits- und Pflegewissenschaft an der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er ist zudem Initiator und Mitglied mehrerer DFG-Sonderforschungsbereiche sowie BMBF-Forschungsverbünde und hatte bereits mehrere Gast- und Gründungsprofessuren inne. Zu seinen bekanntesten Werken zählt das mittlerweile in der 4. Auflage erschienene "Evidence based Nursing and Caring: Methoden und Ethik der Pflegepraxis und Versorgungsforschung – Vertrauensbildende Entzauberung der 'Wissenschaft'", das ebenfalls im Hogrefe-Verlag erschienen ist.

Nun widmet sich der "Altmeister" in jahrelanger, mühsamer Kleinarbeit einem sehr komplexen und in der deutschen Pflegelandschaft deutlich unterrepräsentierten Thema: Der theoretischen Fundierung von Pflege- und Therapieberufen. Doch wer hier ein Werk über Theorien und Theoriebildung in Anlehnung am Georges C. M. Evers berühmtes "Theorien und Prinzipien der Pflegekunde" erwartet, hat sich geirrt: Behrens stellt in seinem 264 Seiten starken Fachbuch
• übersichtlich (s)eine historisch-anthropologische Theorie gewaltreduzierender Pflege und Therapie vor
• setzt bei Selbstpflege und Selbsttherapie an
• differenziert diese von Professionspflege und Professionstherapie
• fragt, ob man Erfahrungen anderer für sich verallgemeinern kann
• zeigt die Unterschiede zu einer Professionspflege und einer Professionstherapie auf
• und klärt schließlich, welche entscheidenden Beiträge die Pflege- und Therapiewissenschaften zur Gesellschaftstheorie liefern.

Dabei setzt er auf eine phänomenologisch- und neurowissenschaftlich-systemtheoretische Grundlage und beginnt nicht mit klassischen Ansätzen aus dem 19. Jahrhundert, sondern bereits bei den frühen Pflege- und Therapietheorien aus der Antike. Sein Ausgangspunkt ist nicht die professionelle Pflege (Berufspflege), sondern Selbstpflege und Selbsttherapie.

Und auch bezüglich der Zielgruppe überrascht Behrens: Es wäre zu erwarten gewesen, dass sich das Buch ausschließlich an Pflegeakademiker richtet, die sich vielleicht gerade (vorsätzlich oder zufällig, das sei dahingestellt) im wissenschaftlichen Elfenbeinturm aufhalten. Doch genau das Gegenteil ist der Fall: Das Buch wendet sich an beruflich Pflegende/Therapierende und – um Behrens' eigene Worte zu verwenden – „[…] ebenso an 'alle anderen', die sich selbst pflegen und therapieren“.

Das Buch ist gut lesbar und verfügt über einen klar strukturierten Aufbau. Behrens hat es in sechs Kapitel gegliedert:
• Historisch-anthropologische Theorie gewaltreduzierender Pflege und Therapie
• Drei theoretische Fast-Selbstverständlichkeiten
• Theorie der Selbstpflege und der Selbsttherapie
• Kann ich Erfahrungen anderer auf mich verallgemeinern
• Professionspflege und Professionstherapie
• Die entscheidenden Beiträge von Pflege und Theorie zur Gesellschaftstheorie.
Hier wird der Leser Stück für Stück in (s)eine neue Theorie der Pflege und der Therapie eingeführt.

Michael Schulz fasst es in seinem Nachwort sehr treffend zusammen: „Johann Behrens bringt uns eine Art des Denkens näher und ermutigt uns, unserem Denken und unseren Ergebnissen zu trauen – ‚sapere aude‘ – habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Dieser Gedanke bedeutet Verantwortung und Befreiung zugleich.“

Damit markiert das Fachbuch einen wesentlichen Beitrag zur deutschsprachigen Diskussion einer Pflege- und Therapietheorie. Es setzt bei der Selbstpflege und der Selbsttherapie an und unterscheidet sie von der Professionspflege und Professionstherapie. Damit greift es Pflege- und Therapietheorien und deren Kritiken seit Platon und Goethe auf. Es weist ein historisch-anthropologisch sowie ein empirisch klar umgrenztes System der Pflege und der Therapie in seiner historischen Ausdifferenzierung aus. Zudem nimmt es die biologische und sozialwissenschaftliche Systemtheorie auf und bezieht Phänomenologie und Hirnforschung aufeinander. Das Buch führt klar und verständlich in die handlungstheoretischen und methodischen Grundlegungen von externer und interner Evidence ein. Es stellt die Bedeutung der Pflege und Therapie für die Selbstreflexion moderner Gesellschaften heraus. Damit vergegenwärtigt Behrens, dass die „Internetgesellschaft“ anders funktioniert, als die „Blutdruckgesellschaft“.

Und ganz nebenbei bezieht Behrens ungewöhnlich deutlich Stellung, beispielsweise „[…] Der Begriff ‚Laienpflege‘ ist eine Unverschämtheit den Personen gegenüber, die die Arbeit der Selbstpflege und Selbsttherapie für sich und ihre Familien mit langjähriger Erfahrung und großer Expertise verantwortlich ausüben“ (S. 17) oder „[…] über Zwei-Klassen-Medizin und Pflege regt sich die Öffentlichkeit auf, über die Zwei-Klassen-Eisenbahn nicht“ (S. 23). Und in einer nahezu demütigen Geste dankt Behrens seinen Studierenden, die er auf sechs Seiten im Anhang namentlich benennt, für deren Argumente, die ihn dazu bewogen haben, eine Theorie der Pflege und der Therapie zu veröffentlichen. Demut, nicht Protzen - Hut ab!

Für mich hat dieses Buch das Potential zur Pflichtlektüre für alle Pflegenden und therapeutisch Tätigen – Prädikat: ausgesprochen wertvoll und sehr zu empfehlen!

Eine Rezension von Prof. Dr. Martin Knoll
Katholische Stiftungshochschule München