Nau, J. et al.: Gewaltfreie Pflege

Gewalt
 
Nau, J. et al.
Gewaltfreie Pflege
Praxishandbuch zum Umgang mit aggressiven und potenziell gewalttätigen Patienten
Hogrefe Verlag, Bern, 2018, 104, S., 21,95 €, ISBN: 9783456858661

Das vorliegende schmale Büchlein will auf der Grundlage des 2012 erschienenen Buches von Walter, G. et al. „Aggression und Aggressionsmanagement – Praxishandbuch für Gesundheits- und Sozialberufe“ einen kurz gefassten praxisorientierten Überblick über das Thema geben.

An eine Einführung in das Thema schließen sich Begriffserklärungen. In einem weiteren Kapitel werden die Orte der Gewalterfahrung und deren Prävalenz skizziert. Daran im Anschluss werden die Gewalterlebnisse von Pflegenden in „direkt physisch“, „direkt psychisch“ und „indirekt physisch bzw. psychisch“ differenziert. Fokussierten die Betrachtung bis hierher die Situation von Gesundheitspersonal in Institutionen des Gesundheitswesens, die Gewalt erfahren haben, ist den Gewalterlebnissen von Angehörigen und Pflegebedürftigen ein eigenes Kapitel gewidmet, wobei das häusliche Setting als eine weitaus komplexere Situation beschrieben wird.

In einem weiteren Kapitel werden Theorien und Modelle der Aggressionsentstehung erläutert und in der Diskussion ein sogenanntes NOW-Modell entwickelt. Es geht dabei in erster Linie darum, in Situationen, in denen sich Aggression bzw. Gewalt ereignen, eine Kommunikationsmöglichkeit darüber zu haben, was sich im „Hier und Jetzt“ (now) ereignet, ohne dass dabei temporale und weitere situative Aspekte und Umgebungsfaktoren vernachlässigt werden.

Ausführlich werden im Weiteren Möglichkeiten der Eskalationsprävention und Deeskalationsstrategien beschrieben. In dem sich anschließenden Kapitel „Hilfen für Betroffene“ wird der Nachbetreuung und Nachbesprechung von Situationen, in denen Pflegende Aggression bzw. Gewalt erfahren mussten, große Bedeutung beigemessen. Dabei spielt die Reaktion der Vorgesetzten eine große Rolle. Es wird deutlich gemacht, dass durch Leugnung/Verniedlichung der Situation („Ist doch nicht so schlimm“ oder „Ist doch nichts passiert“) durch Kollegen, aber vor allem Vorgesetzte eine sekundäre Traumatisierung der Betroffenen entsteht oder entstehen kann. Der Schutz durch die gesetzliche Unfallversicherung und die Gesetzgebung wird skizziert.

Bei dem großen Thema kann auf 88 Seiten keine wirklich erschöpfende Abhandlung des Themas erwartet werden. Es wird vieles angerissen; die Darstellung bleibt aber notwendig verkürzt. Das ist aber nicht das einzige Problem, das den Rezensenten bei Lesen des Buches beschäftigte. Wichtig und richtig ist zweifelsfrei die Feststellung, dass diejenigen, die Aggression oder Gewalt erfahren immer Opfer sind. Dass der Fokus der Darstellung auf Aggression und Gewalt gegenüber Pflegenden gelegt wird, mag angesichts der Tatsache nachvollziehbar sein, dass sich die Diskussion über Gewalt in Pflegebeziehungen, die ja auch noch nicht so sehr alt ist, etwa ein Vierteljahrhundert primär um die von Pflegenden ausgehende Gewalt gegenüber zu Pflegenden drehte. Auch sind die geforderten organisatorischen Reaktionen und z.B. die Beschreibung der Befreiungstechniken richtig.
Gleichwohl ist diese so ganz einseitige Betrachtung des Umgangs mit aggressiven und gewalttätigen Patienten in der Sache aus verschiedenen Gründen nicht angemessen:
• Es mag sein, dass es primär aggressive Menschen gibt; auch sei durchaus konstatiert, dass im Alter vor allem in Verbindung mit der Entwicklung einer Demenz soziale Filtermechanismen, die bei mentaler Gesundheit das Verhalten regulieren (können), wegfallen können und so schon immer vorhandenes aggressives Verhalten stärker zum Ausdruck kommt. Beides kann aber zahlenmäßig das Auftreten von Aggression und Gewalt gegenüber Pflegenden kaum erklären. Aggressives Verhalten und der Ausbruch von Gewalttätigkeit erfolgen in der Regel in einem dialektischen Prozess.
• Die Autoren beschreiben in der Darstellung der Problematik des häuslichen Settings sehr zutreffend die große Belastung der pflegenden Angehörigen, die zu Überforderungssituationen führen kann. Es kommt infolge dessen allerdings nicht nur zu Misshandlungen an zu Pflegenden; auch pflegende Angehörigen sind vermutlich nicht so selten von Gewaltaktionen durch die Angehörigen, die sie pflegen, betroffen. Die Frage ist, weshalb die Autoren Überforderungssituationen, und was daraus resultiert nicht auch in Bezug auf das klinische Setting diskutieren – und diese gibt es nicht nur, sie sind in nahezu allen Institutionen quasi Alltag. Hier wären dann noch einige andere Konsequenzen zu ziehen.
• Die Darstellung, dass sich zu Pflegende voraussetzungslos aggressiv gegenüber Pflegenden verhalten, geht implizit davon aus, dass Pflegende und zu Pflegende auf Augenhöhe agieren und eigentlich keiner sich dem anderen gegenüber aggressiv oder gewalttätig verhalten darf. Dies ist jedoch eine kontrafaktische Annahme. In Pflegebeziehungen besteht immer ein deutliches Machtgefälle. Wir verdanken Irmgard Hofmann (Intensiv, 9, [2001] 6, S.251) den unendlich wichtigen Hinweis, dass im Pflegealltag ständig eine konstitutive Grenzüberschreitung stattfindet; Hofmann reflektiert über den Zusammenhang zwischen unvermeidbarer Grenzüberschreitung einerseits und Autonomieverletzung bis zur Gewalt andererseits. Pflegende müssen sowohl in der Klinik als auch noch verstärkt in Heimeinrichtungen organisatorische Strategien durchsetzen, die den zu Pflegenden nicht gefallen – und diese können sich häufig nicht wehren. Die Pflegenden führen oftmals (zugegebenermaßen mitunter gegen besseres Wissen oder entgegen der eigenen Überzeugung) Maßnahmen durch, die die zu Pflegenden primär nicht wollen, oftmals auch nicht verstehen. Eine originäre Pflegehandlung, die Eingabe von Flüssigkeit und Nahrung ist geradezu ein Eldorado von Gewaltaktionen in pflegerischen Beziehungen – die hirnrissige Fixierung der Aussichtsbehörden auf den BMI wäre hier zu diskutieren. Und im Falle der Inkontinenz findet die von Hofmann beschriebene „unvermeidbare Grenzüberschreitung“ der Pflegenden in klassischer Weise statt.

Die Dialektik zu betonen, die Gewaltaktionen in der Regel eigen ist, bedeutet nicht, das Opfersein des von Gewalt Betroffenen zu schmälern oder zu nivellieren oder gar diesem einen „Täterstatus“ anzuhängen. Die Dialektik aber in einem Handbuch, das ja wohl für Pflegende gedacht ist, nicht zu erwähnen, ist absolut unangemessen – wird doch damit insinuiert wird, dass die/der Pflegende, die/der Gewalt erfährt, ursächlich nichts mit dem Geschehen zu tun habe. Das ist aber nun definitiv nicht der Fall. Pflege wird sich dieser Grundkonstitutive ihrer Tätigkeit stets bewusst sein müssen.

Eine Rezension von Paul-Werner Schreiner