Forschungsprojekt CareOrg wirft Blick auf Altenpflegemarkt in Europa: Wie beeinflusst die Mobilität von Pflegekräften Politik und Gesellschaft?

pflege arbeitsmarkt europa forschungIn Deutschland sind derzeit rund 5 Millionen Menschen pflegebedürftig. Prognosen zufolge wird diese Zahl bis zum Jahr 2050 auf über 7 Millionen ansteigen. Ein funktionierendes Pflegesystem wäre ohne die Unterstützung durch Arbeitsmigration längst nicht mehr möglich. Doch wie ist diese grenzüberschreitende Pflege organisiert? Welche Auswirkungen hat sie auf die Herkunftsländer der Pflegenden? Und wie reagiert die Politik darauf? Diese zentralen Fragen stehen im Fokus eines internationalen Forschungsprojekts, das am Fachbereich Sozialwissenschaften der Goethe-Universität koordiniert wird. 

Mit der zunehmenden Alterung der Bevölkerung steigt auch die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland kontinuierlich an. Der enorme Bedarf an Pflegekräften kann längst nur noch durch Arbeitsmigration gedeckt werden. Seit Jahren bewährt sich dieses System, insbesondere durch das wirtschaftliche Gefälle: Fachkräfte, vor allem Frauen aus Osteuropa, kommen nach Deutschland, um hier besser zu verdienen als in ihren Heimatländern. Doch wie wirkt sich diese Mobilität beispielsweise auf die Situation in Polen aus, von wo viele Pflegekräfte stammen? Dieser Frage widmen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Rahmen des Projekts „Researching the Transnational Organization of Senior Care, Labour and Mobility in Central and Eastern Europe“. Das Projekt wird von der VolkswagenStiftung im Rahmen der Förderlinie „Herausforderungen und Potenziale in Europa“ mit 1,5 Millionen Euro gefördert.

Das Forschungsprojekt „CareOrg“ untersucht die transnationale Altenpflegearbeit aus und innerhalb Mittel- und Osteuropas. An dem Projekt sind Forschungsteams aus Rumänien, Ungarn, Tschechien, Polen, der Ukraine und den Niederlanden beteiligt. Ziel des Projekts ist es, die entstehenden transnationalen Pflegemärkte zu verstehen, zu theoretisieren und Lösungen für eine nachhaltige und menschenwürdige Pflege sowie Pflegearbeit in Europa zu entwickeln. Mithilfe empirischer und engagierter Forschung werden sowohl aktuelle als auch zukünftige Muster der Kommerzialisierung, Vermarktung, Transnationalisierung, Professionalisierung und Digitalisierung der Altenpflege kartiert und analysiert.

Inländische Pflegekräfte bleiben im Durchschnitt nur etwa acht Jahre im Beruf, bevor sie den hohen psychischen und physischen Belastungen sowie der geringen Anerkennung und dem mäßigen Gehalt nicht mehr standhalten. Die sogenannten „Live-ins“, die einst als illegale Notlösung für die Pflege von Angehörigen entstanden, sind inzwischen fester Bestandteil des deutschen Pflegesystems. Sie wurden legalisiert und formalisiert: Agenturen vermitteln Pflegekräfte, die regelmäßig nach Deutschland pendeln und sich mit Kolleginnen aus ihrer Heimat abwechseln. Ein empfindlicher Schock für dieses System war die Corona-Pandemie: Von einem Moment auf den anderen war das Pendeln nicht mehr möglich, und das System stand kurz vor dem Zusammenbruch. „Mit Nachhaltigkeit hat das wenig zu tun“, betont Ewa Palenga-Möllenbeck, die das Projekt leitet. Eine prekäre europäische Binnenmigration könne keine langfristige Lösung sein, zumal auch in den Herkunftsländern der Pflegekräfte die Bevölkerung altert und zunehmend Pflege benötigt.

„In den Herkunftsländern der Pflegekräfte wird immer noch in den Familien gepflegt. Das übernehmen meist Frauen, die dann eben früher in Rente gehen und entsprechend wenig in die Rentenversicherung einzahlen“, erklärt Palenga-Möllenbeck. Dass die Politik in diesen Ländern sich der Problematik nicht stelle, geschehe auf dem Rücken der Frauen. Und es gebe eine Art Kaskade: Damit etwa polnische Frauen nach Deutschland gehen können, um dort als Live-In zu arbeiten, kommen ukrainische Frauen nach Polen und kümmern sich dort um die Pflege – meist ohne ordentliche Vertragsgrundlage. „Viele arbeiten nur, damit sie wohnen können, und werden richtiggehend ausgenutzt“, so Palenga-Möllenbeck.

Mit ihrer Forschung will sie die Situation transparent machen und auf den Handlungsbedarf hinweisen. In der Schweiz etwa gebe es für die Ankommenden als erstes eine Schulung hinsichtlich ihrer Rechte und Pflichten. Es sei dringend erforderlich, dass es in ganz Europa ordentliche Arbeitsverträge gebe; auch in Deutschland habe man Verbesserungsbedarf festgestellt. Viele Pflegekräfte seien auf der Grundlage von wenig vorteilhaften privatrechtlichen Verträgen angestellt.

CareOrg ist ein internationales und interdisziplinäres Forschungsteam, mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus den Bereichen Arbeits-, Mobilitäts- und Alternsforschung. Dr. Palenga-Möllenbeck (Goethe-Universität) hat sowohl die Leitung als auch die Koordinierung des Projekts inne. Weitere beteiligte Institutionen sind die Karls-Universität in Prag (Tschechische Republik), das Zentrum für Sozialwissenschaften in Budapest (Ungarn), die Babeș-Bolyai University in Cluj-Napoca (Rumänien), das Institut für Systemische Alternativen in Kiew (Ukraine) und die Universität Amsterdam (Niederlande). Im Rahmen eines themenübergreifenden, international vergleichenden Forschungsdesigns wird CareOrg eine Kombination aus unterschiedlichen Forschungsmethoden anwenden, wie etwa vergleichende Policy-Analysen und fünf vertiefende, länderspezifische und themenorientierte Fallstudien über Care-Drain, Care-Situation infolge von Krieg und Flucht in und aus der Ukraine, Pflege vermittelt über Agenturen und digitale Plattformen, Qualifikationen und Anforderungen an internationale Pflegekräfte und vieles mehr.

Das Projekt ist Teil des Programms „Herausforderungen und Potenziale in Europa“ der VolkswagenStiftung, an dem die Goethe-Universität mit insgesamt fünf Projekten und damit bundesweit am meisten beteiligt ist. Ab Mittwoch, 4. September, findet im Schloss Herrenhausen in Hannover ein dreitägiges Symposium statt, an dem insgesamt 21 internationale Forschungsprojekte teilnehmen und ihre Ergebnisse zu vielen gesellschaftlich hoch relevanten Fragen wie intergenerationelle Beziehungen, Altern, Migration oder Populismus präsentieren. Die wissenschaftliche Koordination des Symposiums ist an der Goethe-Universität angesiedelt, sie wird von Dr. Ewa Palenga-Möllenbeck von Institut für Soziologie wahrgenommen.

Wissenschaftliche Ansprechpartnerin:
Dr. Ewa Palenga-Möllenbeck
Wissenschaftliche Leiterin „Researching the Transnational Organization of Senior Care, Labour and Mobility in Central and Eastern Europe“ (https://careorg.eu)
Institut für Soziologie, Fachbereich 03
Theodor-W.-Adorno-Platz 6
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Zur Pressemitteilung: https://www.puk.uni-frankfurt.de/157051697/Der_Altenpflegemarkt_als_europ%C3%A4isches_System

Foto: stock.adobe.com – One

 

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